‚Je décolle avec un planeur sur la vingt-huite…’

August 2006. Südfrankreich zeichnet sich nicht nur durch exzellente Küche, das Filmfestival einer Küstenstadt oder als matchentscheidendes Tour-de-France-Etappenziel auf einem gleichermassen windigen wie kahlen Berggipfel aus. Es ist auch die Gegend, wo sich Picasso von seinen Musen küssen liess und des Winters die Trüffelschweine durch die sanften, endlosen Hügel des Lubéron ziehen.

Link zur Dia-Show Vinon 2006.

Der Blick aus 4’000 M.ü.M. aus dem Cockpit des Duo-Discus bei der Barrage Rochemolles ins Vallée Modane und zum Mont Blanc.

Von Februar bis Oktober täglich fliegen…

Südfrankreich geniesst auch bei den vom Wetter wenig verwöhnten Segelfliegern nördlich des Alpenbogens einen besonderen Ruf. Das Land südlich des Col de la Croix Haute unterscheidet sich wesentlich von unserer Gegend: man kann mit etwas Geschick von Februar bis Oktober immer segelfliegen. Drei weitere Merkmale machen diese Region zu einer segelfliegerisch besonders gesegneten Ecke der Nordhemisphäre. Das Mikroklima im allgemeinen, der Mistral und die segelfliegerische Erschliessung der Region im besondern. Im erwähnten Zeitraum reicht die Sonneneinstrahlung aus, um hervorragende und über weite Teile des Gebietes homogen verteilte Aufwinde zu produzieren. Für besondere Bedingungen ist der kalte, starke und durch Mark und Bein dringende Nordwind namens Mistral zuständig. Wellenflüge in grossen Höhen und über weite Distanzen sind ihm und jenen nervenstarken PilotInnen zu verdanken, welche sich in den bissigen Windstrom stürzen.

Besterschlossenes Segelfluggebiet der Welt…

Einmal in der Luft, profitiert man von einer einmaligen Segelflug-Infrastruktur. Die Landemöglichkeiten sind in Südfrankreich auf über ein Dutzend Segelflug-Zentren verteilt. Meistens sind Schleppflug-Kapazitäten vorhanden. Es reicht, seine Mitglieder-Nummer im Aero-Club de France zu wissen, die Verrechnung der benötigten Schleppminuten erfolgt selbst nach einer Aussenlandung zentral über die Abrechnung des Startplatzes. Die verschiedenen Zentren sind administrativ verbunden.

Caravans habitables…

Anfangs August 2006 wagt sich eine ganze Expedition aus Schänis nach Südfrankreich. Ausgestattet mit den aktuellen Luftraum-Anpassungen, Frequenzen, Lande- und Aussenlandeplatz-Informationen, richten wir uns auf dem trockenen Flugplatz Vinon, seinen ‚caravans habitables’ oder im benachbarten, noch ‚habitableren’ Hotel Olivier häuslich ein. Einige von uns sind mit den Spezialitäten Vinons von früheren Aufenthalten her vertraut, andere sind neu hier. Jene werden auf dem von der SG Lägern netterweise zur Verfügung gestellten Duo Discus von mir während der ganzen Woche durch die Gegend gescheucht, während die andern selbständig mit eigenen Flugzeugen oder mit einem ebenfalls aus Schänis mitgebrachten Gruppen-Ventus oder Discus in eigener Regie die Gegend erkunden.

Fester Tagesablauf

Üblicherweise beginnt der Tag in Vinon mit einer Visite der schönen Bäckerin in der Häuserzeile beim malerischen Platanenplatz mitten im Dorf. Jeweils einer von uns opfert sich, um dort die frischen ‚Baguettes traditionelles’ einzukaufen, welche für das gemeinsame Frühstück vor dem Château roulant von Fridli und Ernst nötig sind. Inzwischen ist dort bereits der Kaffee gebrüht, entsprechender Duft zieht um das Wohnwagen-Museum, es werden grössere Mengen Eier mit Speck zubereitet sowie heimische Käsesorten und verschiedene Confitures aufgetischt. Logisch, dass bei diesem morgendlichen Ritual die fliegerischen Möglichkeiten des Tages erstmals seziert werden.

Multikultitreffen in der Blechbude: ‚Briefing au hangar début’…

Wir teilen uns danach die Arbeit, einige waschen ab, die andern montieren gemeinsam im Nu alles, was fliegt. Teamwork ist wichtig. Danach bildet das Briefing den nächsten Fixpunkt im Tagesablauf. Alles, was in der Gegend (noch) aufrecht gehen und fliegen kann, trifft sich hier. Régis oder Mickey informieren über das theoretisch stattfindende Wetter, darüber, was gestern gut oder schlecht gemacht wurde und weisen auf die Besonderheiten des heutigen Tages hin. Besonders letzteres kann sich bei speziellen Bedingungen bei Gewittern oder Mistral nützlich erweisen. Alles ist hier etwas extremer als zuhause. Die Temperaturen, die Windstärken oder die Grösse des Flugplatzes. Das Briefing ist entsprechend gut besucht. Hans Reis übersetzt am Ende alles in eine uns verständliche Sprache. Die Erfahreneren geben Tipps, wohin man heute fliegen soll. Sitzplätze verteilen ist kein Problem. Jeder von uns ist im Laufe des Aufenthaltes über 30 Stunden in der Luft. Das Wetter ist nett zu uns. Während der Rest Europas im Regen versinkt, können wir praktisch täglich fliegen – sofern man das will.

Thermikbäume und Plastikschlangen.

Die Zeit vor dem Start wird in Vinon verschiedenartig genutzt. Wir beobachten ist eine gewisse Hektik, welche mit dem fliegerischen Ausnahmezustand hier einhergeht. Lange (Boden-) Distanzen, Hitze, Trockenheit und Wind sind nicht jedermanns Sache, die Hirntätigkeit wird bei über 30° sowieso spürbar beeinträchtigt. Organisation ist die halbe Miete. Wir überlegen uns auf dem weitläufigen Fluggelände jeden Schritt und geniessen dank vermiedener ‚Leerfahrten’ entspannt unter dem ‚arbre thérmique’ die letzten Minuten vor dem Start, während alle um uns herumschwirren.

Der ‚arbre thermique’ ist ein praktisches Gewächs. Entdeckt wurde er von Schänner Segelfliegern. Er ist etwa vier Meter hoch, eigentlich die einzige grüne Pflanze weitherum. Sie funktioniert ganz einfach. Man sitzt entspannt darunter und unterhält sich mit seinen Copains über Aktienkurse, Segelschiffe, Hauskäufe oder andere dramatische Lebensabschnitte. Dabei wartet man, bis der Baum seine Blätter bewegt. Macht er das wegen erster Ablösungen länger als eine Minute, wird es spannend. Ist dann der Abstand zwischen zwei ‚Raschlern’ kürzer als zwei Minuten, sollte man starten. Dann sind die Aufwinde in Vinon, einem ansonsten‚thermisch toten Gebiet’, wie es einzelne Schweizer Meister im Segelflug in einer depressiven Phase schon bezeichneten, über zwei Meter pro Sekunde stark. Das reicht natürlich den meisten, um oben zu bleiben. Ausser man mag es sportlich und klinkt 50 m über der Hangkante, um ein paar Minuten später nach dem ersten verpassten Aufwind die grosszügigen Aussenlandefelder zwischen Vinon und Greoux auszuprobieren. Dass man dort sogar an einem ausgezeichneten Segelflugtag unter 3/8 Cumulus mit Basis von 2’500 Meter landen kann, wird der Martin Haller unter Zeugen bestätigen. Offizielle Strafe für derartiges Verhalten ist das öffentliche Leertrinken einer auf 40° angewärmten Dose Guinness-Beer. Brr.

Minirock und Minibandes…

Die lange Plastikschlange, welche sich am Start vor den beiden ‚minibandes’ (Startstreifen) bildet, ist kein Grund zur Sorge. Fünf Schleppflugzeuge plazieren rund 100 Flugzeuge in kürzester Zeit über den nahen ‚Forêt de Vinon’ im Grund genommen eine Ansammlung mannshoher, lockerer Gebüsche (arbres thermiques?), welche sich etwa 100 Meter über den Talgrund erheben. Der Aufenthalt im segelfliegerischen Wartesaal wird durch die äussere Erscheinung der Schlepp-PilotInnen Vinons zusätzlich erleichtert. Manche von uns bleiben auffallend oft freiwillig am Boden. Dieses Infrastruktur-‚Enhancement’ sollte SchänisSoaring bei der nächsten Evaluation neuer Saison-SchleppilotInnen berücksichtigen. Was nicht heisst, dass unsere gestandenen Schleppiloten unattraktiv wären… Aber ein knapper Minirock und das unvergleichlich zart gehauchte ‚Je décolle avec un planeur sur la vingt-huite…’ verfeinern natürlich Optik und Akustik eines Segelflugtages ganz gehörig – um nicht von einer ‚Vernebelung der Sinne’ zu reden.

Segelflug-Vollpackung…

Nach erfolgreichem Start fädeln wir je nach Wetterlage über dem Plateau Valensole, dem Durancetal oder südlich des Lubéron (Mistral) ein. Anfangs ist häufig akkurates segelfliegerisches Handwerk und etwas Geduld gefragt, um eine gehörige Arbeitshöhe aufzubauen und sicher in die Voralpen einfädeln zu können. Täglich erkunden wir eine neue Ecke des Gebietes, Flüge ins Modane-Tal, zum Col de la Croix Haute, an den Monte Viso und in die Ecrins gehören zum täglichen Programm. Alle Vinon-‚Neulinge’ geniessen bei Ernst Willi eine komplette Gebietseinweisung. Mal geht es rechts rum durch die gesamte Geografie, anderntags links rum – Hauptsache, jeder ist überall einmal gewesen. An zwei Tagen stehen Mistral-Einweisungen auf dem Programm. Ich mache dabei auch mal zwei Starts pro Tag, um den Interessierten die Einstiegsmöglichkeiten in die Wellensysteme zwischen Lure und Pic de Bure zu zeigen.

Meteo-Ausnahmezustand…

Das gesamte segelfliegerische Programm kommt während unserer Ferien vor. Bei einem Flug in den Raum Gap werden 1’500 Meter nie überstiegen, ein andermal flieht die ganze Schänner Expedition vor einer nahenden Gewitterfront. Vier Piloten entscheiden sich dafür, in der Luft zu bleiben und müssen nach mehrstündigen Warteschlaufen am Ende sicherheitshalber in St. Auban zu Boden, während die andere Hälfte noch vor dem Gewitter in Vinon landet. Dabei ist zu erwähnen, dass nur dank raschem Eingreifen und viel Teamwork Schäden vermieden werden. Während Ernst seinen ‚5’ dank Fridlis Hilfe noch trocken in den Hänger bringt, hat ein Pilot aus Buttwil kein Glück (vor allem keine Helfer). Die heftige Böenwalze des Gewitters wirft seine für wenige Minuten allein gelassene Pégase auf den Rücken und zerbricht sie. Von der Schänner Expedition sind abends allerdings alle trocken und ohne ein ‚Chribeli im Chassis’ wieder glücklich in Vinon au lac vereint.

Soupe du poisson…

Zu den täglichen Höhepunkten gehört der abendliche Erfahrungsaustausch in der lokalen Gastronomie. Schon die Fahrt zum Restaurant ist ein Erlebnis. Frankreichs AutomobilistInnen scheinen mehrheitlich suizidgefährdet zu sein – kein normaler Mensch würde sich so schnell in so alten Klapperkisten über die ruppigen provençalischen Strassen bewegen. Darüber hinaus sind die Sonnenuntergänge beinahe so farbenprächtig wie im Süden Afrikas. Die kulinarischen Erlebnisse (Fischsuppe) werden nur noch durch die ‚Aussenwerbung’ eines ‚Escort-Services’ an strategisch wichtigen Stellen (T-Shirts der Bedienung) übertroffen. Das reicht zusammen mit der französisch gehaltenen Speisekarte, den erwähnten SchleppilotInnen und den Segelflug-Erlebnissen aus, um unsere Sinne vollends zu vernebeln. Dem lokalen Weinangebot mag dies im Gegensatz dazu trotz unserer mitgebrachten Weinfachleute nicht immer gelingen. Die ausländischen Winzer aus Italien oder Übersee haben während der letzten Jahre einheimische Produkte hinter sich gelassen.

Unserer guten Stimmung tut dies keinen Abbruch. Nach zehn erlebnisreichen und unvergesslichen Tagen in einem der nächstgelegenen Segelflug-Paradiese machen wir uns mit einem breiten Grinsen im Gesicht zufrieden auf den hindernis- und baustellenreichen Heimweg in die Schweiz. Es geht das Gerücht, dass mancher Teilnehmer während der segelflug-abstinenten Wintertage mitten in der Nacht an seinem Computer überrascht wurde. Es heisst, jene blaue CD mit über 500 Photos und einer eigens angefertigten Slideshow tröste während Monaten über die Sorgen des Alltages hinweg. Gewarnt wird vor unerwünschten Nebenwirkungen. Sie mache süchtig…

Einstieg zum ‚Parcours des combattants‘: die Felsrippen des Montagne de coupe.

Teilnehmer

Heinz Brem, Martin Haller, Albert Götz, Walter Götz, Fridli Jacober,  Martin Karrer, Hans Reis, Peter Schmid, Beat Straub, Max Weber, Karl Wickli, Ernst Willi.

Benutzte Aufwinde (Zahl in Klammer = Meter pro Sekunde):

Osten der Region: Greoux, Abfalldeponie, (1.5). Valensole, Südkante alter Flugplatz (1.8). Stausee südlich Puimoisson (2.0). Puimoisson, westliches Flugplatzende (1.2). Plateau vor der Serre de Montdenier, Stonehenge-Steinkreise (2.8). Coupe (2.0). Parcours (2.0). Mont Guillaume (3.0). Tête de Lucy (3.0). Tête d’Amont (3.5). Crête des agenaux (3.5). Crête de peyrolles (2.0). Barrage Rochemolles (1.5). Col d’Etache (1.5). Pic de Rochebrune (3.0), Prachaval (0.0 !). Grand Bérard (3.5). Chapeau Gendarme (3.5).

Westen der Region: Lubéron, Lac des roteurs (4.5). Mourre nègre (3.5). Forcalquier, Sternwarte (2.5). Lure, Steinbruch südlich Lure-Gipfel (2.0). Vallée du Jabron (4.5), Col de Tourettes, Nähe Rosans, (2.5). Montagne de St.Genis, Montrond (2.5). Céuse (2.5). Tête de Jarret, zwischen Veynes und Pic de Bure (2.5). Pic de Bure (3.0). Pic de Chabrières, Skigebiet westlich Guillaume (1.5). Val Gaudemars (1.5). Mont Colombis (2.0). Gache (1.5). Vaumuse (2.5). Crête de Liman (2.5). Blayeul (2.5). Cousson (1.8). Beynes (1.5).

Maximale Höhe: 4’500 Meter, Barrage Rochemolles.

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